»SELBST E.V.«:

Vom Objekt zum Subjekt

(Artikel aus der Zeitschrift Socialmanagemeint, 2/2001)

Doris Wiese-Gutheil

Menschen sind nicht behindert sondern werden von der Gesellschaft behindert-diese banale Erkenntnis gab den Anstoß zur Gründung eines neuen Vereins in Frankfurt am Main: »selbst e.V.«. Sein Logo zeigt einen Behinderten im Rollstuhl, der aus eigener Kraft einen wohl geordneten Kistenstapel zum Einsturz bringt und - obwohl aus einfachen Strichen zusammengesetzt — beim Betrachter einen starken und beinahe fröhlichen Eindruck hinterlässt.

Selbst e.V. ist die wohl logische Fortsetzung eines Strebens nach möglichst großer Unabhängigkeit, das vor allem junge Menschen mit schweren Behinderungen in den 70er-Jahren in deutschen Großstädten angestoßen haben. Plötzlich gab es dort immer mehr Menschen, die sich weigerten, ihr Leben in Altenheimen zu verbringen, nur weil sie Behinderungen aufweisen, die regelmäßige Pflege erforderlich machen. Auch die aufopferungswillige Familie oder der bis an die Grenzen der Belastbarkeit beanspruchte (Ehe-)Partner galten nicht länger als einzige Alternative zum Pflegeheim.

Das aufkeimende Selbstbewusstsein der Pflegeabhängigen und die langsam erwachende Erkenntnis, Experten in eigener Sache zu sein, führte allerorten auch zu der politischen Forderung eines autonomen Lebens für Menschen mit Behinderung. Zunächst besetzten Pflegedienste die Lücke zwischen Familienhilfe und Heimunterbringung, doch immer mehr pflegebedürftige Menschen erkämpften sich, zum Teil gegen heftige Widerstände, das Recht, ihre Pflege selbst zu organisieren.

Dass mit dem Arbeitgeberstatus aber auch viele Probleme verbunden waren, hat die Zahlen vermutlich kleiner gehalten, als es eigentlich dem Willen der betroffenen Menschen entsprach. Denn wer Pflegekräfte selbst einstellen, beschäftigen und ihre Dienste korrekt abrechnen will, wird unweigerlich zum Arbeitgeber, muss eine vollständige Lohnbuchhaltung aufbauen und kann sich — bei acht bis zwölf Mitarbeitern — mit einem durchschnittlichen Handwerksbetrieb messen.


Hilfe für Arbeitgeber

Kein Wunder, dass sich nur wenige auf diesen Weg einlassen wollen. Hier hakt selbst e.V. ein: Gegründet im Herbst 1999, will der Verein gerade kein weiterer Pftegedienst sein, sondern Beratungsdienst und Servicestelle für Menschen mit Behinderung, die ihre Pflege selbst organisieren wollen, dabei aber Unterstützung brauchen, sei es bei der Anwerbung von Personal, bei der Abrechnung der erbrachten Leistungen oder bei der Anleitung neuer Helferinnen und Helfer.

Für Hannes Heller, Sozialarbeiter und einer der beiden hauptamtlichen Mitarbeiter des Vereins, steht fest, dass die Menschen, die er berät, endlich wieder vom »passiven Objekt zum handelnden Subjekt« werden müssen. Selbst bestimmt, selbst organisiert, selbst verwaltet und selbst verantwortlich sollen sie ihr Leben und die untrennbar dazu gehörende Pflege gestalten können.

Dazu geben er und Marianne Csak, selbst als Rollstuhlfahrerin mit vielen Schwierigkeiten ihrer Klienten vertraut, jede erdenkliche Hilfe. In den ersten Wochen praktischer Arbeit seit dem Sommer 2000 haben sie rund 20 Betroffene eingehend beraten, sieben haben sich schon dafür entschieden, die Angebote von selbst e.V. zu nutzen. Mittelfristig rechnet der Verein mit etwa 40 Teilnehmern. Aber es können auch mehr werden: Allein in Frankfürt, so schätzt die Stadt, organisieren rund 250 Menschen mit Behinderung ihre Pflege selbst. Das Sozial-amt zeigt sich in diesem Bereich großzügig, auch die Arbeit von selbst e.V. wird bereitwillig gefördert.

Neben dem Wunsch, möglichst selbstständig in der eigenen Wohnung leben zu können, ist es nach Erfahrung von Heller und Csak vor allem die Unzufriedenheit mit vielen Misslichkeiten der etablierten Pflegedienste, die Behinderte zu Arbeitgebern werden lassen. Nicht nur, dass ohnehin kaum ein professioneller Dienst in der Lage ist, mehr als vielleicht vier oder sechs Stunden Pflege pro Tag sicherzustellen, von einer 24-Stunden-Betreuung, die mancher Atemgelähmte etwa braucht, ganz zu schweigen. Auch der häufige Wechsel der Personals, die kaum vorhandene Chance einer Einflussnahme auf die Pflegeperson auch bei intimen Verrichtungen, die Unzuverlässigkeit mancher Dienstpläne machen den Betroffenen immer wieder neu ihre Abhängigkeit bewusst.

Auch bei der viel beschworenen Qualitätssicherung mancher Pflegedienste ist Heiler nach jahrelanger Erfahrung skeptisch: »Oft wird von formaler Qualität geredet, statt wirkliche Qualitätsmerkmale aufzulisten.

Ein Grund für selbst e.V., bei der Rekrutierung von Helfern nicht auf den Berufsabschluss zu schielen, sondern auf die Persönlichkeit der Pflegekraft. Wichtig sei vielmehr, »ob sich ein Helfer auf die Vorstellungen und auf das Leben eines pflegeabhängigen Menschen einlässt, ob Zuverlässigkeit und Schutz der Privatsphäre gewährleistet sind, kurz, ob die Chemie stimmt«, betont Heiler. Für jedes Vereinsmitglied könne auf diese Weise ein individuelles Dienstleistungspaket geschnürt werden, das sich allein an den Bedürfnissen des Behinderten orientiert.

Dumping-Löhne sind in einer Dienstleistungsmetropole wie Frankfurt am Main für solche Einsätze nicht an der Tagesordnung. (Brutto-)Stundenlöhne haben sich hier bei rund 20 Mark eingependelt. Der Verein selbst verlangt für seine Dienstleistung zurzeit eine Pauschale von 280 Mark im Monat, die sich auf 490 Mark erhöhen wird, wenn im Jahr 2003, nach einer bis dahin hoffentlich erfolgreichen Vereinsarbeit, die beiden Mitarbeiter ihre jetzigen ABM-Stellen in feste Angestelltenverhältnisse umwandeln können.

Dank der engen Kooperation von selbst e.V. mit der Stadt Frankfürt übernimmt die Stadt die Pauschale für die behinderten Arbeitgeber. Die Finanzverwaltung des Vereins liegt ebenso wie Personalverwaltung und Lohnbuchhaltung — falls gewünscht —  bei dem dritten Kooperationspartner, der evangelischen Diakoniestation gGmbH.

Socialmanagement 2/2001, S.9